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Die “letzte Meile” – Herausforderungen und Trends der Digitalisierung

Wir stehen erst am Anfang. Zu diesem Schluss kamen viele der insgesamt etwa 200 Teilnehmer der 19. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Tourismuswissenschaft e.V. (DGT), die unter dem Leitthema “Herausforderungen und Trends der Digitalisierung” vom 12.-14. November 2015 an der Hochschule Kempten ausgerichtet wurde.

Als große Megatrends neben Nachhaltigkeit und demographischem Wandel werden nach Einschätzung von Prof. Sommer von der Fakultät Tourismus der Hochschule Kempten, vor allem Technologie und die Digitalisierung in der Zukunft einen großen Einfluss auf den Informationsbedarf und das zunehmend am authentischen Erlebnis orientierte Reiseverhalten des Gastes haben. Dabei bietet die steigende Nutzung des Internets über Mobilgeräte große Chancen, den Informationsbedarf des Gastes zukünftig angemessen bedienen zu können. Doch damit diese Chancen genutzt werden können, müssen zuerst wichtige Herausforderungen bei der Digitalisierung im Tourismus gelöst werden.

DGT_Tagung_Kempten_2015

 

Die von Prof. Landvogt und seinem Team perfekt organisierte Tagung beleuchtete in praxisorientierten Vorträgen verschiedene Aspekte der Digitalisierung im Tourismus aus der Perspektive von Forschung und Wirtschaft. Mit seiner Teilnahme an der Veranstaltung unterstrich Staatssekretär Pschierer die Bedeutung des Themas für die bayerische Wirtschaft und wies in seinem Vortrag darauf hin, dass Digitalisierung auch das Leitthema des bayerischen Tourismustags 2016 sein wird. Er kündigte ebenfalls an, dass die Staatsregierung für den Fortschritt bei der Digitalisierung im Tourismus bereits weitere Investitionen in Gründerzentren und Förderprogramme für die Zukunft geplant hat.

Auch wir hatten die Gelegenheit, in einem Vortrag über unsere Erfahrungen beim Aufbau der Outdooractive Plattform zu berichten. Das wichtigste Anliegen war uns dabei aufzuzeigen, dass wir die größte Herausforderung bei der Digitalisierung im Tourismus darin sehen, zunächst eine übergreifende und gemeinsame Vision für die gesamte Branche zu entwickeln. Die Überbrückung der letzten Meile im Tourismus und der Aufbau einer digitalen Tourismusinfrastruktur könnten eine solche Vision und Strategie sein.

Zusammenfassung zur letzten Meile und dem Aufbau einer digitalen Tourismus Infrastruktur

Bei der Versorgung der Bevölkerung mit Strom-, Gas- und Telekommunikationsnetzen ist die “letzte Meile” immer die größte Herausforderung. Während beispielsweise Daten zwischen den Knotenpunkten von Kommunikationsnetzen sehr schnell ausgetauscht werden können, stellt der Anschluss jedes einzelnen Haushalts oft einen schwierig aufzulösenden Flaschenhals dar. Daten, die zwar den größten Teil der zu überbrückenden Distanz über schnelle Glasfasernetze mit großer Bandbreite zurücklegen, werden ausgebremst, wenn die letzten Meter am Anfang oder Ende noch durch alte und damit langsame Kupferkabel zurückgelegt werden müssen. Auch im Tourismus, wo Informationen oft als das “Lebensblut” der Industrie bezeichnet werden, ist die “letzte Meile” beim Informationsfluss die am schwierigsten zu lösende Aufgabe. Denn oftmals liegen Informationen digital gar nicht vor, sind unvollständig oder nicht aktuell. Die “letzte Meile” kann hier von zwei Seiten betrachtet werden.

Informationen-als-Lebensblut-des-Tourismus

Die letzte Meile aus Sicht der Destinationen

Ziel der Destinationen ist es, den einzelnen Gast mit Informationen überhaupt erreichen zu können, und im besten Fall einen direkten Kommunikationskanal mit ihm herzustellen. In den letzten Jahren haben sich in diesem Kontext die Begriffe “Touchpoints”, “Customer Journey” und “Service Design” etabliert. Die Begriffe bezeichnen die Kontaktpunkte zwischen Gast, Destination und touristischen Anbietern während des kompletten Reiseerlebnisses von der Planung über den Reiseaufenthalt bis zum Nacherleben, wobei beim Service Design die gezielte Optimierung des Reiseerlebnisses für den Gast im Vordergrund steht. Aus Sicht von Destinationen und touristischen Anbietern besteht der Wunsch, die Zielgruppe der Gäste über die letzte Meile effektiver erreichen und ansprechen zu können als bisher.

Die letzte Meile aus Sicht der Gäste

Aus der Perspektive des Gastes betrachtet, stellt die “letzte Meile” ebenfalls eine Herausforderung dar, nämlich genau die Informationen zu finden, die für den Gast zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Kontext interessant und relevant sind. Hat die Berghütte heute geöffnet? Komme ich mit dem Kinderwagen hin? Gibt es einen kleinen Spielplatz und kann ich mit der Familie dann einen Kaiserschmarrn essen? Selbst auf diese einfachen Fragen findet der Gast in der Praxis heute leider nur in seltenen Fällen eine schnelle Antwort. Neben Informationen, die noch gar nicht digital erfasst sind, gibt es für den Gast auch das Problem des Informationsüberflusses.

Eine gemeinsame Vision für die Digitalisierung im Tourismus könnte es daher sein, auf Grundlage der physischen touristischen Infrastrukturen auch eine digitale touristische Infrastruktur aufzubauen und das Problem der “letzten Meile” im Informationsfluss zwischen Gast, Destination und Anbieter dadurch zu lösen, dass die aktuell gehaltenen Informationen für alle Anwender im Rahmen einer offen Datenlizenz bereitgestellt werden. Das Ziel einer digitalen Tourismus Infrastruktur sollte eine intelligente Datenbasis sein, mit der die Voraussetzungen erfüllt werden, dass interessante und relevante Informationen den Gast zukünftig über unterschiedlichste Anwendungen finden können, ohne dass der Gast explizit danach suchen muss.

Intelligente-Daten

 

Dazu sollten Daten semantisch strukturiert, standardisiert erfasst, aktuell gepflegt, und über offene Schnittstellen bereitgestellt werden. Zu einer digitalen Tourismus Infrastruktur gehören zum Beispiel Karten, Wegenetze, Tourenvorschläge, Points of Interest (POIs), Unterkünfte, Restaurants, Angebote, Veranstaltungen und Geschichten. Die georeferenzierten Inhalte sollten über Bilder, Beschreibungen und semantische Auszeichnungen verfügen, wie beispielsweise die Angabe von Öffnungszeiten, Preisen, oder Alterseinschränkungen und Empfehlungen. Neben der Bereitstellung einer Plattform, mit der die digitale Tourismus Infrastruktur in einer einheitlichen Datenstruktur erfasst, aktualisiert und zugänglich gemacht werden kann, muss auch die Basis zur Überbrückung der letzten Meile mit einbezogen werden. Nur wenn jeder touristische Dienstleister die Entscheidung trifft, seine Öffnungszeiten, Angebote und sonstigen Informationen für die touristische Infrastruktur bereitzustellen und zuverlässig zu aktualisieren, kann eine flächendeckende Verfügbarkeit von hochwertigen touristischen Informationen auf der letzten Meile der Region gewährleistet werden.

Damit die gemeinsame Vision einer digitalen Tourismus Infrastruktur etabliert, und die Chancen der Digitalisierung im Tourismus genutzt werden können, ist allerdings auch ein Paradigmenwechsel bei den Verantwortlichen der Destinations Management Organisationen (DMOs) erforderlich. Es sollten nicht mehr nur Kampagnen, virale Marketing-Erfolge und Social Media Strategien im Vordergrund stehen. Die Arbeit an einer nachhaltigen intelligenten Datenbasis erfordert deutlich mehr Aufmerksamkeit als bisher. Auch über Jahre etablierte Praxis im Markt sollte sollte kritisch hinterfragt werden. So nimmt zum Beispiel die Fokussierung auf “Unique Content” und die eigene Webseite im touristischen Praxis-Alltag fast schon perverse Ausmaße an. Nahezu die gesamte Branche verfolgt das Ziel, einzigartige Inhalte im Web bereitzustellen, da diese ein gutes Ranking in der Google-Suche in Aussicht stellen.

Doch sollten aktuelle und hochwertige Informationen über Angebote, Attraktionen und Erlebnisse aus Sicht der Destinationen nicht besser in einem einheitlichen und gleich hohen Qualitätsstandard möglichst weit verbreitet werden, um so viele Menschen der Zielgruppe erreichen zu können wie möglich? Warum machen sich Destinationen eigentlich das “Suchmaschinenproblem” eines Konzerns zu Ihrem eigenen Problem? Weil sie sonst abgestraft werden könnten, wenn hochwertiger Content der Destination mehrmals im Netz auftaucht? Weil Google die eigene Webseite der Destination vielleicht nicht auf dem ersten Platz der Ergebnisliste zeigt wenn nach Angeboten in der Region gesucht wird? Für Destinationen wird es in Zukunft viel wichtiger sein, eine nachhaltige und authentische “Unique experience” zu bieten als “Unique Content” zu besitzen. Dazu muss allerdings das “Content-Paradox” aufgelöst, und die “Unique Content” Philosophie verworfen werden. Denn alle Informationen die im Zusammenhang mit dem einzigartigen Erlebnis für den Gast in der touristischen Destination wichtig sind, sollten in hochwertiger Form digital erfasst und zur Steigerung der Verbreitung offen für alle nutzbar über eine digitale Tourismus Infrastrukturbereitgestellt werden.

digitale_tourstische_Infrastruktur

 

Um die Vision der digitalen Tourismus Infrastruktur zu realisieren sind gute Strategien und große Anstrengungen vieler Akteure nötig. Dabei sind neben Investitionen vor allem eine hierarchische Arbeitsteilung und gut organisierte Strukturen in den Regionen häufig die Schlüssel zum Erfolg. Die Tourismuswirtschaft wird eine große Bandbreite von Anwendungen für den Markt entwickeln und bereitstellen. Die Tourismuswissenschaft sollte sich mit dem Analyse-Potenzial und der anwendungsorientierten Nutzung einer digitalen Tourismus Infrastruktur durch die verschiedenen Akteure auseinandersetzen und dabei sowohl theoretische Grundlagen aufzeigen, als auch praktische Handlungsempfehlungen für Wirtschaft und Politik entwickeln. Die Politik sollte als Investitionskatalysator die Führung übernehmen und gemeinsam mit Wirtschaft und Wissenschaft eine greifbare Vision und einen strategischen Investitionsplan für die zu lösenden Anforderungen der Digitalisierung im Tourismus im Kontext von Megatrends vorgeben. Für Destinationen bietet sich eine große Chance, ebenfalls eine führende Rolle einzunehmen, und die Herausforderungen der “letzten Meile” im Tourismus unter Einbeziehung der Basis für die eigene Region zu lösen. Damit kann die Destination einen wichtigen Beitrag zum Aufbau einer digitalen Tourismus Infrastruktur für die Anwendungen der Zukunft leisten.

Im folgenden sind ausgewählte Erkenntnisse einzelner Beiträge der Tagung kurz zusammengefasst.

Tag 1

In seinem Vortrag über Big Data in der Hotellerie verwendete Dr. Toedt für die oft fehlende Kompetenz im Umgang mit den immer größeren Datenmengen und Datenflüssen aus verschiedensten Systeme den einprägsamen Begriff der “Daten-Impotenz”. Seiner Einschätzung nach ist diese im Bereich der Hotellerie leider noch weit verbreitet. Sein Aufruf an die Lehre und den Nachwuchs war es, sich mehr mit Informationstechnologien auseinanderzusetzen, da es heute kaum noch Stellen im Tourismus gibt, an denen entsprechende Kenntnisse nicht erforderlich sind.

Herr Nützel von Regiondo unterstrich in seinem Vortrag über Herausforderungen und Chancen der Online Buchung von Leistungsträgern, wie schwierig es in der Praxis ist, die Notwendigkeit der aktuellen Pflege von Basisinformationen wie Öffnungszeiten oder Preise an die Vielzahl kleinerer Anbieter touristischer Angebote zu vermitteln.

Prof. Brysch und Herr Faradi betonten in Ihrem Vortrag, dass sie durch Virtual Reality Technologien in den kommenden Jahren exponentielle Veränderungen auf die Tourismusbranche zukommen sehen, die dem Gast ein noch nie dagewesenes virtuelles Reiseerlebnis ermöglichen werden. Sie provozierten damit eine Diskussion, ob der Gast denn dann überhaupt noch reisen müsse. Prof. Kreilkamp beantwortete diese Frage im Anschluss an seinen Vortrag am letzten Tag der Veranstaltung mit der Überzeugung, dass diese Arten der Entwicklung den Wunsch des Gastes nach dem realen Erlebnis vor Ort eher noch verstärken werden.

Zum Abschluss des ersten Tages präsentierte der Geschäftsführer der Allgäu GmbH, Herr Joachim, die zentralen Werte, Versprechen und Kriterien, die beim Aufbauprozess der Dachmarke Allgäu entscheidend für den Erfolg sind. Seine Vision ist es, das Allgäu mit einem umfassenden Netzwerk von Markenpartnern als leistungsstarken, zukunftsorientierten ländlichen Raum für Leben, Arbeiten und Urlauben zu entwickeln, der sich durch nachhaltiges Wirtschaften und gesundes Leben auszeichnet.

Tag 2

Der zweite Tag der Veranstaltung wurde von Prof. Hopfinger eröffnet. Er berichtete über die wichtigsten Erkenntnisse der Jahrestagung des Arbeitskreises für Tourismusforschung der Deutschen Gesellschaft für Geographie von Anfang Juni 2015 und zeigte dabei anhand von Beispielen intelligenter Kühlschränke und selbstfahrender Fahrzeuge auf, wie erfolgreich Digitalisierung in anderen Branchen bereits umgesetzt wird.

Zum Nachdenken regte auch der emotional gehaltene Vortrag von Prof. Bauer an, der den zunehmenden Mangel an Medienkompetenz gerade bei jüngeren Generationen kritisierte und dazu aufrief, nicht nur bei Bewertungen von Restaurants kritisch zu hinterfragen, wie subjektive Meinungen geäußert werden, wie sie sich leicht verstärken können und wie am Ende ein stark eingefärbtes und verfälschtes Bild einer Situation entstehen kann.

Tag 3

In seinem herausragenden Vortrag zum Abschluss der Konferenz lieferte Paul Bulencea gleich mehrere Denkanstöße und Perspektiven, wie sich die Tourismusbranche auf die Veränderungen durch den digitalen Wandel einstellen sollte. Ein zentraler Gedanke war dabei Maslows Bedürfnishierarchie, die in der Bedeutung zunehmend auf den Kopf gestellt wird, da heute für viele Menschen die Selbstverwirklichung viel mehr im Vordergrund steht als beispielsweise physiologische Bedürfnisse aus früheren Zeiten.
Das persönliche Erlebnis und die positive Erinnerung des Gastes sollten daher im Kern des touristischen Produktangebots stehen und sich zudem möglichst einzigartig von der Masse an austauschbaren Erlebnissen abheben. Technologie kann hierbei unterstützen, wenn Sie im Rahmen eines umfassenden Erlebnisdesign-Konzepts zum Beispiel mit spielerischen Elementen eingesetzt wird.

Abschließend möchten wir uns bei Prof. Landvogt und seinem Team nochmals ganz herzlich für die gute Zusammenarbeit im Rahmen unserer Unterstützung der Veranstaltung bedanken.